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Die guten Tschetschenen von Kilchberg

Bereitgestellt von am Sunday, 12 July 2015.    283 views 1 Kommentar
Die guten Tschetschenen von Kilchberg

Sie hat sich integriert, trotzdem droht einer Familie aus Tschetschenien die Rückschaffung. Eltern, Lehrer und Schüler wehren sich für sie.

Das Epizentrum des Protestes ruht in der Mittagssonne. Es ist die Schule von Kilchberg, ein Schulhaus, wie man es sich vorstellt von der Tür bis zum Dach. Es hat einen grossen Pausenplatz davor, durch das Gitter sieht man auf den ­Zürichsee. Mehr Frieden kann nicht sein.

Drei Mädchen sitzen im Schatten ihrer Schule, reden miteinander und kichern. Sie waren sich fremd, sie sind Freundinnen geworden: Melanie, Markha, Linda. Die eine kommt von hier, die beiden anderen sind hierhergekommen. Mit ihren Eltern und Brüdern. Vor dreieinhalb Jahren floh die Familie aus Tschetschenien in die Schweiz.

Der grösste Wunsch

Als die Kinder nach Kilchberg gelangten, verstanden sie kein Wort Deutsch, jetzt reden sie fliessend Hochdeutsch und Dialekt, auch untereinander. Sie haben sich eingelebt, sie wohnen hier, sie möchten bleiben. «Unser grösster Wunsch als Familie», sagt Markha, die Ältere: «Dass wir nicht weggehen müssen.» Die Kleine macht dazu ein so frohes Gesicht, als sei das schon beschlossen. Die Mutter hofft noch, ihr Mann offensichtlich nicht mehr: Vorletzte Woche musste er nach einem Zusammenbruch in das Sanatorium Kilchberg eingeliefert werden.

Zuvor hatte das Bundesverwaltungsgericht einen Entscheid des Staatssekretariats für Migration (SEM) letztinstanzlich bestätigt: Die Familie muss in ihr Herkunftsland zurückkehren. Ihre Asylgründe seien nicht glaubwürdig und eine Rückkehr zulässig, zumutbar und möglich. Die Schweiz unterscheide nicht zwischen russischen und tsche­tschenischen Asylsuchenden, ergänzt Martin Reichlin vom Staatssekretariat auf Anfrage, weist aber darauf hin, dass im laufenden Jahr 28,6 Prozent der russischen Asylgesuche anerkannt würden. Ohnehin werde jedes Gesuch individuell geprüft.

Die Fremden in ihrer Mitte

In Kilchberg wächst der Widerstand gegen die drohende Rückschaffung. Eltern und Schüler haben sich zum Komitee formiert. Und bitten die Migrations­behörde, die Familie aus humanitären Gründen in der Schweiz aufzunehmen. Sie haben eine Website installiert, die ihr Anliegen schon im Titel trägt: hier­zuhause.ch. Sie zeigt die Familie auf dem Schulplatz, umringt von all den Bürgerinnen und Bürgern, die sie in Kilchberg behalten möchten.

Die Familie flüchtet, in einem Minibus versteckt, über Weissrussland in die Schweiz, wo sie ein Asylgesuch stellt.

Während die Mädchen auf dem Schulplatz herumrennen, erläutern die Eltern von Melanie ihre Motive. Sie hätten so etwas noch nie getan, sagt Ronie Bürgin, einer der Initianten. «Wir tun es jetzt, weil wir die Ausschaffung der Familie unzumutbar finden. Und unwürdig für unser Land.»

Politische Gründe habe er nicht, habe niemand im Komitee. Aber dass eine Familie mit vier Kindern, die sich in den fast vier Jahren hier bestens integriert habe, trotzdem zurückgeschafft werde und das in einen offensichtlichen Unrechtsstaat, das empöre ihn. Als Vater und Bürger. «Statt ein Asylheim am Stadtrand zu installieren», sagt er noch, «müsste man die Flüchtlinge, die sich integrieren wollen, in unserer Mitte leben lassen.»

Was genau heisst integriert?

Ronie Bürgin wuchs als Sohn einer Brasilianerin in der Schweiz auf, seine Frau Francesca kam als 13-Jährige aus England nach Kilchberg, die beiden haben also eine eigene Ahnung davon, was es heisst, sich fremd zu fühlen in der Schweiz.

Was heisst für das Paar denn integriert? Zuerst braucht Francesca Bürgin jene Adjektive, die man eher mit Assimilation assoziiert: eine ausnehmend freundliche Familie, die Eltern bemüht, Deutsch zu lernen, die Kinder an der Schule glücklich und beliebt. Im Lauf des Gesprächs werden die Gefühle stärker, Bürgin erzählt von den Elternabenden, bei denen der Vater jedes Mal gekommen sei, beim Treffen am Grümpelturnier. Er habe übrigens auch eine Arbeitsstelle gefunden, was den Entscheid der Behörden noch unverständlicher mache, sagt ihr Mann. «Wieso schafft man eine Familie zurück, die sich so gut eingelebt hat?»

Ja, wieso? Wie so oft in solchen Fragen widersprechen sich Aussagen und Einschätzungen. Laut dem Unterstützungskomitee geht die Version des Vaters so: Weil er einem tschetschenischen Rebellen aus dem Nachbardorf hilft, wird er von Schlägern des Präsidenten Ramsan Kadyrow festgenommen und zehn Tage lang verhört und gefoltert. Dann lässt man ihn frei, aber das hat dort System; auf die Freilassung folgen meistens Hausbesuche von Kadyrows Spezialeinheiten, um der Familie Angst zu machen.

Der Vater versteckt sich, ebenso seine Frau mit den Kindern, die Soldaten finden sie nicht. Wenig später flüchtet die Familie nach Polen, wo die fünf als Flüchtlinge anerkannt werden. Dennoch fühlen sie sich dort zu wenig sicher und reisen weiter in die Niederlande, wo sie wegen des Dublin-Abkommens nicht bleiben dürfen.

Im Juli 2011 kehrt die Familie nach Tschetschenien zurück, wo der Vater von einem Überläufer aus seinem Dorf als Widerstandskämpfer denunziert wird. Wieder tauchen Kadyrows Schläger auf, um ihn zu verhaften, treffen ihn aber nicht zu Hause an. Die Familie durchlebt angstvolle Monate, die Lage wird für sie untragbar, also flüchtet sie im November erneut. Der Vater, die schwangere Frau und ihre drei Kinder reisen mit dem Zug nach Moskau und, in einem Minibus versteckt, weiter über Weissrussland in die Schweiz, wo sie im Empfangszentrum Vallorbe ein Asyl­gesuch stellen.

Dieses wird zwei Jahre später abgelehnt. Freunde der Familie bezahlen einen Anwalt, der beim Bundesverwaltungsgericht rekurriert. Vergeblich. Die Familie hätte heute ausgeschafft werden sollen, das ist der letzte Schultag vor den Sommerferien. Aber dann kollabiert der Vater.

Migrationsamt glaubt ihm nicht

Warum muss die Familie nach Tsche­tschenien zurück, anders gefragt: Warum trauen die Schweizer Behörden dem Vater nicht und verweigern ihm den Flüchtlingsstatus? Weil sie ihm nicht glauben, dass er in seinem Land gefährdet ist; weil sie ihn nicht für einen Widerstandskämpfer halten; und weil sie ein entscheidendes Dokument als unecht einschätzen, mit dem er seine Gefährdung durch das Regime belegen will: eine Vorladung der tschetschenischen Polizei vom Dezember 2014. Ein solches Dokument lasse sich in Tschetschenien kaufen, argumentiert das Staatssekretariat für Migration unter anderem, es fehlten Stempel und Absenderadresse.

Auch der Asylbetreuer von Kilchberg hat Mühe, den Entscheid aus Bern mitzutragen. Ihm fehle das nötige Verständnis.

Überhaupt habe der Vater nicht glaubhaft machen können, Aufständische in seiner Heimat zu unterstützen. «Das SEM geht eher davon aus, dass Sie aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen und sozialen Situation mit Ihrer Familie aus Tschetschenien geflüchtet sind.» Zudem bestehe dort keine humanitäre Krise mehr, das sähen auch die UNO und das Rote Kreuz so.

Das sei zwar richtig, hört man von Journalisten, die sich auskennen, aber wer nicht zum Klientelkreis von Präsident Kadyrow gehöre, sei der Willkür seiner Garde ausgesetzt; erst recht beim Verdacht, Aufständische zu unterstützen. Die Gesellschaft für bedrohte Völker weist darauf hin, dass schon die Flucht aus Tschetschenien eine Rückkehr erschwert. Und die Crisis Group, eine international angesehene Denkfabrik, beschreibt in ihrem Bericht von Ende Juni Fälle von Willkür, ungesühnten Übergriffen, von Regierungsdruck auf die Justiz; von einer trügerischen Stabilität.

Kritik der lokalen Behörde

Ob die Behörden den tschetschenischen Vater zu Unrecht beschuldigen, lässt sich nicht überprüfen. Für Thomas Schaad, Anwalt der Familie, steht fest: Wer aus Tschetschenien komme, habe es mit einem Asylgesuch schwerer. Ihn überzeugt auch der Fälschungsvorwurf nicht, mit dem die Behörde gegen den Vater argumentiert. Erstens gebe es keinerlei Hinweise darauf, dass er die Vorladung gekauft habe. Zweitens müsse man Dokumente umso genauer untersuchen, je korrupter eine Regierung agiere.

Unabhängig solcher Differenzen beschäftigt die drohende Rückschaffung der Familie viele in Kilchberg. Die Empörung aus der Bevölkerung verdeutlicht, was viele Betreuer von Flüchtlingen aus eigener Erfahrung kennen: wie sehr sich die Gefühle intensivieren, wenn das Schicksal die Statistik verlässt, wenn der Asylfall sich zur Familie konkretisiert, wenn aus fernen Flüchtlingen Eltern werden, die man am Grümpelturnier sieht, und Kinder, die sich mit der eigenen Tochter anfreunden.

Dürfte diese Familie bleiben, das glaubt auch der Asylbetreuer von Kilchberg, käme das im Dorf gut an. Als Behördenmitglied muss André Delafontaine die Entscheide aus Bern mittragen, «aber in diesem Fall habe ich Mühe, das nötige Verständnis aufzubringen». Die tschetschenische Familie sei exemplarisch integriert, immer hilfsbereit, und sie beanspruche keinerlei Spezialbehandlungen.

Nur verschoben

Und wie reagieren die Kinder darauf, dass ihre Mitschülerinnen die Schweiz wohl werden verlassen müssen? «Sie fragen viel, denn es beschäftigt sie», sagt Thomas Böhm, ein Lehrer, der die tschetschenischen Mädchen unterrichtet. «Ich habe ihnen auf der Karte gezeigt, wo Tschetschenien liegt», sagt er, «aber ich habe ihnen nicht davon erzählt, was dort passiert ist.»

Eltern erzählen, ihre Kinder seien aufgewühlt, manche müssten immer wieder weinen, andere würden für ihre Schulfreundinnen beten. Auch Markha, die Ältere der beiden tschetschenischen Mädchen, trägt schwer an der drohenden Ausschaffung. Zugleich bereitet sie sich darauf vor: Sie hat fast alles, was ihr gehört, ihren Mitschülern und ?schülerinnen verschenkt.

Auf der Website des Komitees haben fast 800 Leute unterschrieben. Die Ausschaffung wurde nicht ausgesetzt. Nur verschoben.

(Tages-Anzeiger)
(Erstellt: 09.07.2015, 21:09 Uhr)

Der Bund

1 Kommentare »

  • Johann Atzensberger said:

    Es ist unglaublich, Schweiz, das Land indem von Henry Dunant das Rote Kreuz gegründet wurde gibt sich jetzt so unmenschlich basierend auf Bürokratismus. Jeder daran beteiligte Bürokrat sollte sich selbst einmal in dieselbe Lage versetzen wie es für die Flüchlinge ist.

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