Achmed Sakajew: “Medet Önlü war unentbehrlich für uns…”
Medet Önlü, Ehrenkonsul der Tschetschenischen Republik Itschkeria in der Türkei, wurde am 22. Mai 2013 in seinem Büro erschossen. Am ersten Jahrestag seines Todes hat das monatlich erscheinende türkischsprachige, tschetschenische Magazin “Marsho” ein spezielles Interview geführt mit dem Premierminister Achmed Sakajew.
Marsho: Herr Premierminister, wann und wo haben Sie Medet Önlü getroffen?
Achmed Sakajew: Ich traf Medet Önlü 2001 in Istanbul, in der Türkei, als ich im Auftrag von unserem Präsidenten Aslan Maschadow einen offiziellen Besuch abstattete, der Erste seit Beginn des Zweiten Russisch-Tschetschenischen Kriegs. Der Anlass meines Besuchs waren die tschetschenischen Asylsuchenden, die allmählich in der Türkei ankamen, um ihre Familien vor den russischen Aggressoren zu schützen, denen durch Putin der Auftrag erteilt wurde, so viele tschetschenische Zivilisten wie nur möglich zu töten. Nach meiner Ankunft in der Türkei habe ich zuerst Aslanbek Dandiyev besucht, den Leiter der Abteilung für Tourismus und Jugendpolitik, der aufgrund seiner Verletzungen irgendwann vor mir aus Tschetschenien geholt wurde. Während unseres Gesprächs riet er mir, mich mit Medet Önlü zu treffen, einen Patriot des tschetschenischen Volkes, Nachkomme der Muhadschire, die nach dem Ende des Kaukasisch-Russischen Kriegs im 19. Jahrhundert aus Tschetschenien in den Nahen Osten ausgewandert waren. Aslanbek zufolge hatte Medet gute Verbindungen zu Regierungskreisen in der Türkei.
Ich rief Medet an, der in Ankara war, aber am zweiten Tag unseres Gesprächs kam er nach Istanbul. Und dank Medet schaffte ich es, nicht nur die Probleme mit den tschetschenischen Asylsuchenden zu lösen, sondern auch sehr wichtige Themen rund um den tschetschenischen Widerstand. Er arrangierte für mich ein Treffen mit dem Minister für Innere Angelegenheiten der Türkei und dem Stellvertretenden Ministerpräsidenten der Türkei. Ich gebe diese Informationen weiter, um zu verdeutlichen, wie wichtige die Rolle Medets in den tschetschenisch-türkischen Beziehungen war.
Marsho: Können Sie Ihren ersten Eindruck von Medet Önlü beschreiben?
Achmed Sakajew: Vom ersten Moment unserer Begegnung an glaubte ich an die Aufrichtigkeit von Medet. Ich kann bezeugen, dass Medet ein wahrer Muslim, ein guter Bürger der Türkei, ein großer Patriot und ein würdiger Sohn des tschetschenischen Volkes war. Unmittelbar nach unserem Treffen hatte Medet mich seiner Familie vorgestellt. Er sagte mir, dass er dank seiner Großmutter und Mutter seit seiner Kindheit versucht, sich an tschetschenische Traditionen und Verhaltensregeln zu halten. Medet erzählte mir, dass er, als er in den 90er Jahren von Dschochar Dudajew hörte und erfuhr, wie Tschetschenien die Unabhängigkeit wiedererlangte, schwor, sein Leben für die Sache der Unabhängigkeit Tschetscheniens und der Stärkung des tschetschenischen Staates zu widmen. Seitdem bittete er den Allmächtigen darum, ihm die Kraft zu geben, diesen Weg zu gehen. Dann bereitete sich Medet aktiv darauf vor, sich des tschetschenischen Problems anzunehmen: er studierte die tschetschenische Sprache und lernte nicht nur, sie brillant zu sprechen, sondern sie auch kompetent zu lesen und zu schreiben.
Marsho: Medet Önlü war der Ehrenkonsul der Tschetschenischen Republik Itschkeria in der Türkei. Welche Rolle spielte er in der Türkei und dem tschetschenischen Kampf?
Achmed Sakajew: Als jemand, der direkt in die militärischen und politischen Entwicklungen in und um Tschetschenien in den letzten 20 Jahren involviert war, kann ich bezeugen, dass Medet einen großen Beitrag für den Kampf des tschetschenischen Volkes nach Freiheit und Unabhängigkeit geleistet hat. Als Mensch hat er seinem Volk selbstlos geholfen; und als Offizier der ChRI war er ein loyaler Patriot unseres Landes.
Er wurde auf meine Empfehlung hin zum Ehrenkonsul der Tschetschenischen Republik Itschkeria ernannt. Und er hat diesen Titel verdient geführt. Die Arbeit, die er in seinem Amt leistete, war einwandfrei. Weder Präsident Abdul Halim Sadulajew noch ich hätten nachträglich einen Grund, anderweitige Anmerkungen über ihn zu machen. Wir können bestätigen, dass er sich 24 Stunden am Tag seiner Arbeit hingab.
Mit dem Tod von Medet hat das tschetschenische Volk einen würdigen Sohn und einen Patrioten, der tschetschenische Staat eine Führungskraft und einen fleißigen Arbeiter verloren. Zudem lässt sich feststellen, dass die tschetschenischen Asylsuchenden in der Türkei einen Menschen verloren haben, der ihnen jederzeit zu Hilfe kam. Aber abgesehen von all dem habe ich einen vertrauenswürdigen Freund verloren.
Marsho: Es ist fast ein Jahr vergangen seit der Ermordung von Medet Önlü, aber die türkischen Behörden haben es nicht geschafft, den Auftragsmörder und die Drahtzieher zu finden. Was denken Sie darüber?
Achmed Sakajew: Unsere Feinde haben in Medets Leben eingegriffen, wohl wissend, dass sie der gesamten tschetschenischen, nationalen Befreiungsbewegung einen schmerzhaften Schlag versetzen. Man behauptet, dass niemand unersetzbar ist. Im Fall von Medet behaupte ich jedoch, dass er unverzichtbar war für uns.
Es ist eine Tatsache, dass die türkischen Behörden die Mörder von Medet nicht verhaftet haben und ich denke, dass die Politik hier eine Rolle spielt, da es von Anfang an für die Ermittler klar war, dass dieser Mord von Mitgliedern der russischen Geheimdienste begangen wurde, dem russischen Staat. Sie haben bereits alle Beweise gesammelt. Doch aufgrund des politischen Kalküls schweigen die türkischen Behörden darüber. Ich bin mir jedoch sicher, dass die türkischen Behörden einen Fehler begehen, solange sie die wahren Auftraggeber des Verbrechens nicht offenbaren. Keine wirtschaftlichen und politischen Interessen können wichtiger sein als das Leben der türkischen Bürger und das Leben derer, die Zuflucht in der Türkei suchen. Es ist kein Geheimnis, dass in den letzten Jahren in der Türkei politische Morde regelmäßig begangen wurden, und das hat dem Image des türkischen Staates sicherlich geschadet. Aber es ist ein Thema, über das sehr lang diskutiert werden kann, und aus diesem Grund werde ich nicht näher darauf eingehen.
Marsho: Herr Premierminister, möchten Sie der Diaspora in der Türkei eine Nachricht übermitteln?
Achmed Sakajew: Ich möchte sagen, dass alle unsere Opfer, Verluste und Entbehrungen nicht umsonst sein werden und der Allmächtige uns für unsere Geduld und unsere Standhaftigkeit belohnen wird. Ich zweifle keine Minute daran, dass Russland sich aus Tschetschenien und aus dem Kaukasus zurückziehen wird, weil der Vektor der Entwicklungen in den globalen Prozessen sich unaufhaltsam in diese Richtung bewegt. Die Aggression gegen die Ukraine ist kein Akt des Russischen Reiches und keine Wiederbelebung seiner früheren Macht, sondern die letzten Zuckungen vor seinem Tod.
Insbesondere würde ich gerne an die tschetschenischen Jugendlichen appellieren, die in der Türkei geboren und aufgewachsen sind, in der Emigration. Ich möchte unsere jungen Männer anregen, es ist ihnen nicht gestattet, sich in verschiedenen Konflikten als „Kanonenfutter“ zu verausgaben, sie müssen ihre Zeit und Energie Studien widmen. Und wenn einer von ihnen das Militärwesen studieren möchte, ist es am besten, dieses Wissen in den Militärakademien der Türkei und in der hoch qualifizierten türkischen Armee zu erwerben.
Marsho: Herr Premierminister, wir danken Ihnen für Ihre Zeit und Ihre Antworten.
*Das Interview erschien erstmalig in der tschetschenischen Monatszeitschrift “Marsho“. Es wurde von Waynakh Online übersetzt.
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