Maschadows Offener Brief an die Oberhäupter der G7-Nationen (2002)
Sehr geehrte Exzellenzen,
Ich, Aslan Maschadow, der demokratisch gewählte Präsident der Tschetschenischen Republik Itschkeria, schreibe Ihnen diesen verzweifelten Brief im Namen meines Volkes, den Opfern eines völkermordernden Krieges, dessen tägliche Morde noch das Gewissen der Welt, die Sie führen, wecken muss. Wir sind so elend, blutig und versklavt, wie Sie reich, mächtig und frei sind. Sie werden sich bald in Genua mitten in der Pracht und der Zeremonie versammeln, welche sich für Ihren Platz in der vordersten Reihe der Nationen ziemt. Ehrengarden werden Sie begrüßen, Sie werden sich in Palästen treffen, und die Welt wird jedem Ihrer Worte zuhören. Ich schreibe Ihnen von einem Land der Morde, verdorben durch Schlachten und wie meine Brüder bleibe ich ein gejagter Mann in meinem eigenen Land. Ich habe durch die Wahlurne ebenfalls das Privileg und die Verantwortung erlangen, mein Land zu führen, aber Moskau nennt mich einen Räuber, einen Terroristen und Kriminellen. Jenseits der Grenzen meines kleinen Landes scheinen meine Worte nicht viel zu zählen, wie auch der kummervolle Aufschrei meines Volkes, der sie überraschenderweise immer noch stumm und taub lässt. Deshalb werde ich schreiben, bis die Stille durchdrungen wird.
Sie werden zu Ihrem Gipfel zusammenkommen, um einen Schuldenerlass für verarmte Entwicklungsländer in Erwägung zu ziehen. Das ist ein lobenswertes Ziel und es ist zweifelsohne die Hoffnung von unzähligen Millionen, dass humanitäre Sorge die Starken motiviert, ein Ende für das Elend der Schwachen zu suchen. Sollten Sie jedoch die stille Gewalt der Armut bei den Notleidenden und Hungrigen erkennen, weshalb wenden Sie sich von uns ab? Wir, die wir im Feuer des schmutzigen Kriegs des Kremls sterben, sind wir des Mitgefühls weniger würdig? Was hat uns für Sie unsichtbar gemacht? Ich befürchte, ich kenne die Antwort. Ich befürchte, die kalten Anforderungen der Realpolitik bestätigen Sie in Ihrer Untätigkeit und besiegeln unser Schicksal. Um Ihre unsichere Beziehung zu einem zerbrechlichen und unbeständigen neuen Russland nicht zu beschädigen, sind Sie bereit, über die Vernichtung meiner Leute hinwegzusehen.
In Ihren Augen sind wir, um größerer Interessen willen, eine entbehrliche Nation. Deshalb gewähren Sie einem Ehrengast einen Sitz an Ihrem Tisch, dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, und schütteln ihm als Führer einer großen Demokratie die Hände, applaudieren ihm zu als einen Reformierer, der Ihre Werte teilt.
Wenn Sie es ertragen würden, das wahre Gesicht von Tschetschenien unter dem Joch der russischen Besatzung zu sehen, könnten Sie ihn dann tatsächlich noch so lobpreisen? In einer Bevölkerung, die einmal 1 Million Menschen zählte, ist jetzt einer von sieben Tschetschenen tot. 250.00 Zivilpersonen sind Flüchtlinge. Bar jeglicher Grundbedürfnisse, sind viele zerstört aufgrund von Krankheiten und Unterernährung, insbesondere die Älteren und die Jungen. Mehr als 20.000 Zivilisten und Widerstandskämpfer sind inhaftiert in den Gulags, den sogenannten Filtrationslagern. Eingesperrt unter unmenschlichen und primitiven Bedingungen mit wenig oder keiner medizinischen Versorgung, welches die schlechtesten Standards des russischen Strafsystems übertrifft, sieht das Leben in den improvisierten Lägern sadistischen und systematischen Gebrauch von Folter vor. Verbrennungen mit Zigaretten, lähmende Schläge, Erstickung, Ertrinken in menschlichen Exkrementen, Verstümmelung mit Messern, Hochspannungs-Elektroschocks und sexueller Missbrauch sind nur einige der üblichen Praktiken. Viele Insassen werden letzten Endes umgebracht. Sicher ist das für einige eine willkommene Flucht aus der Hölle.
Unsere Frauen werden häufig aufs Geratewohl eingekreist und massenvergewaltigt. Es wird ĂĽblicherweise die Taktik der “verbrannten Erde” angewendet, Dörfer werden geplĂĽndert, vollkommen zerstört und kräftige Männer einschlieĂźlich der Jungen unter 15 Jahren werden versammelt und verschwinden dann. Jeder Tschetschene kann eingesperrt werden ohne Anklage oder zum Tode verurteilt werden ohne eine Verhandlung. Standrecht ist tägliche Praxis bei Männern, Frauen und Kindern jeden Alters. Die Leichen werden häufig bewusst verstĂĽmmelt und zur Schau gestellt, ihre Beerdigung verboten. Unser Tod dient auch als eine neue Form der Währung, wobei russische Soldaten die Verwandten der Toten zwingen, hohe Summen Freikaufgeld zu zahlen, bevor sie die Ăśberbleibsel der Angehörigen aushändigen. Unzählige Massengräber liegen versteckt in Landschaften, die von plattgemachten Dörfern und brennenden Ruinen ĂĽbersät sind. Unsere Infrastruktur existiert nicht mehr. Allein in den letzten 2 Wochen wurden Dutzende von Dörfern im sĂĽdöstlichen und westlichen Tschetschenien erneut terrorisiert, mehr als 300 Zivilisten wurden in einer systematischen Räumungsaktion ermordet und Tausende wurden eingesperrt, gefoltert und vergewaltigt. Wir haben den Europarat informiert – vergeblich. Das ist die dunkle Wahrheit der Realpolitik. Terror, Blutbad und Wahnsinn ist der Preis, den wir zahlen, um den Pragmatismus der internationalen Diplomatie sicherzustellen.
Im Jahre 1945 haben Sie die Bösen des Militarismus, Faschismus und Nazismus geschlagen. Die Länder unter Ihnen, die den monströsen Moloch und den Holocaust im Weltkrieg entstehen ließen, haben geschworen, diese fatalen Fehler nie wieder zu wiederholen und Sie haben hart daran gearbeitet, mit neuem Geist und mutig da zustehen inmitten der älteren Demokratien. Nach einem halben Jahrhundert Fortschritt haben Sie zusammen neue Institutionen für die Staatengemeinschaften gegründet, die UN, NATO, EU und die OSZE, inmitten weiterer regionaler und globaler Gremien, abgezielt auf eine gerechtere und sichere Zukunft. Sie haben im Atomkonflikt den Tag des Jüngsten Gerichts verhindert und Ihr Beispiel hat die Berliner Mauer niedergerissen, der Joch des Kommunismus wurde beseitigt und der Kalte Krieg beendet. Sie haben Ihre Kolonialreiche zerlegt und den zuvor unterworfenen Völkern erlaubt, sie selbst zu sein. Sie haben im In- und Ausland Rassismus bekämpft und Ihre Stimmen haben dabei geholfen, den Schandfleck der Apartheid zu beseitigen. Immer wieder haben Sie dazu beigetragen, dass die Tugenden der Demokratie die Diktaturen übertrumpfen. Vielleicht haben Sie vor allem in Nürnberg Ihren erhabensten Instinkten gehorcht, indem Sie die Maßgabe von Gesetz und Menschenrechten als unantastbare, universelle Prinzipien etabliert haben, die den Barbarismus durch einen zivilisierten Verhaltenskodex zur Rechenschaft zieht.
Wie kann es also sein, dass Sie es zelebrieren, Slobodan Milosevic in Den Haag vor Gericht zu stellen, gleichzeitig aber Putin als glaubwürdigen Partner umarmen? Wie ist es möglich, dass Sie gegen die nackte Aggression während dem Golfkrieg mobil machen, sich einmischen, sobald Sie beobachten, dass ethnische Säuberungen stattfinden und Brutalität in Bosnien, Kosovo, Timor und Sierra Leone tobt, aber selten das Wort Tschetschenien aussprechen? Sie verdammen und isolieren das SLORC-Regime in Myanmar und die Taliban in Afghanistan. Sie üben Druck auf China aus aufgrund der Misshandlungen in Tibet und der Verfolgung regimekritischer Intellektueller und religiöser Anhänger, aber Sie verlieren kein Wort über den Massenmord an zivilen Tschetschenen. Sie wenden unermüdlich Diplomatie an, um den Frieden im Nahen Osten, in Nordirland, Mazedonien, Kaschmir, Kongo, wie auch im Sudan sicherzustellen, wo aber bleibt Ihre Initiative für den Frieden in Tschetschenien?
Im Namen eines sterbenden Volkes bitte ich Sie, uns nicht länger im Stich zu lassen. Ich ersuche Sie, kollektiv Schritte einzuleiten, um Friedensverhandlungen wiederaufzunehmen und augenblicklich einen Waffenstillstand zu erlassen, welches durch neutrale Parteien beaufsichtigt wird. Desweiteren ersuche ich Sie, gemäß internationalem Recht, dringend benötigte humanitäre Hilfe, medizinisches und ärztliches Personal zu entsenden. Weiterhin flehe ich Sie an, die ungehinderte Rückkehr von NGO Menschenrechtsermittlern, -beobachtern internationaler Institutionen und allen Mitgliedern der globalen Presse zu ermöglichen, die aktuell aus Tschetschenien ausgesperrt sind. Ich appelliere an Sie als Oberhäupter der freien Welt, Zivilcourage im Einklang mit demokratischen Traditionen aufzubringen, wie sie es auch geschworen haben, um Druck auf Russland auszuüben, die Vernichtung meines Volkes zu stoppen, Russland für den Völkermord zur Rechenschaft zu ziehen und Sanktionen zu erlassen, sollte Moskau nicht davon ablassen.
Die Brutalität, die wir ertragen müssen, ist nicht neu. Wir erinnern uns an Stalins Salzgruben, seine Wachtürme, die Stacheldrähte und die nicht gekennzeichneten Gräber. Den Schmerz des Exodus und des Völkermords hatten wir zuvor schon ertragen. Deshalb verstehen wir die anderen, mit denen wir aufgrund eines gemeinsamen, schrecklichen Schicksals verbunden sind. Die skelettartigen Juden und Roma in den Öfen von Dachau und Auschwitz. Das Bajonetten-Futter (die Opfer) von Nanjing. Die historischen, weit aufgerissenen Augen der Kinder von Biafra. Die flehende Mutter und ihr Baby im Angesicht der Waffen in Mỹ Lai. Die Marsch-Araber von Irak, erstickt mit Senfgas. Die Tutsi von Ruanda, abgeschlachtet auf den Straßen von Kigali, mit den Messern der Interahamwe. Das sind alles unsere gemarterten Brüdern und Schwestern, im Erbe der Altlasten bestehend aus sinnlosem Mord. Nur ist unsere Schlacht, unser Tod nicht gestern passiert, es gehört zum lebenden Alptraum der Gegenwart. Wie viele Tschetschenen werden in der Zeit sterben, die Sie benötigen, um diesen Brief zu lesen? Wie viele mehr müssen wir beerdigen, bis Ihr Gipfeltreffen vorüber ist? Unterlassen Sie es nicht zu sprechen, um der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit willen, handeln Sie jetzt nach Ihrem Gewissen oder die Geschichte wird auch Sie mit einer Seite der Schande kennzeichnen. Wenn Sie weiterhin untätig bleiben, während mein Volk in einem Blutbad verschwindet, wenn Sie es versäumen, wie in Ruanda, mit Überzeugung und Entschlossenheit zu handeln, werden die tschetschenischen Geister Ihre Ehre und die Ehre von Russland beflecken.
Möge Gott Ihnen die Weisheit und den Weitblick zuteilwerden, um der Sache des Friedens und der Gerechtigkeit zu dienen.
Hochachtungsvoll,
Aslan Maschadow
Präsident der Tschetschenischen Republik Itschkeria
Juni 2002
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