Tschetschenen
Die Tschetschenen nennen sich selbst Nochtschii (Singular Nochtschi oder Nochtscho), oder Nochtschiin gam (das tschetschenische Volk) und ihr Land Nochtschitschö (buchstäblich: das tschetschenische Heim), Nochtschin mochk (das tschetschenische Land) oder Daimochk (Vaterland). Einige dieser Namen leiten sich vom Ethnonym und Toponym eines großen tschetschenischen Stammes ab, den Nochtschmechkachoi und deren Domizil in Südost-Tschetschenien, welches auch Itschkeria genannt wird. Die erste Erwähnung dieser “Ur”-Gemeinde, den “Nachtschmateans”, findet man in mittelalterlichen georgischen und armenischen Chroniken.
Seit dem 8. Jahrhundert n. Chr. bezogen sich arabische Quellen in Georgien auf Tschetschenen mit einer Benennung, welche sie für eine Adoption aus dem Iranischen hielten für “Nochtschii”. Russische Quellen verwendeten die Bezeichnungen “Tschetschene” und “Tschetschenien” erstmalig im 17. Jahrhundert n. Chr., vermutlich übernommen aus dem kabardinischen “Scheschen” (Betonung liegt auf der zweiten Silbe). Der Überlieferung nach wurde diese Bezeichnung verwendet, nachdem die russische Armee in Tschetschen-Aul am Fluss Argun besiegt wurde. Wie auch immer, die Bezeichnung “Tschetschene” wurde bereits sehr früh im Jahre 1692 in russischen Quellen verwendet und “Tschetschenien” wurde bereits 1719 auf Nordkaukasus-Karten anzeigt, was die traditionellen Thesen widerlegt (N. G. Volkova 1973). Laut A. P. Bergé (1991 [1859; 140]), trat der Ausdruck “Tschetschene” erstmalig im Abkommen von 1708 zwischen den Russen und den Kalmücken auf. Aktuell werden für Tschetschenen die Ausdrücke “Tschetscheni” oder “Tschetschentsi” und für ihr Land “Tschetschnya (Tschetschenien)” verwendet, welches unverändert ins Englische übernommen wurde, obgleich tschetschenische Intellektuelle und Nationalisten (die Gemäßigten und “Neutralen”) “Tschetschenia” oder gar “Tschetschenya” bevorzugen. Die Georgier bezeichnen die Tschetschenen als “Tschetschnebi” (Singular: “Tschetscheni), und nennen Tschetschenen wie auch Inguschen “Kistebi” (Singular: Kisti). Die Tscherkessen sagen “Scheschen”, die Osseten: “Tsetsen”, die Avaren “Burtitschi” oder “Burtiyaw”, die Lesgier “Tschetschen”, die Kumuken: “Mitschikisch” oder “Mitschigisch”, diesen Namen (“Mischchisch) verwenden auch die Tscherkessen für die Inguschen.
Nachen, Waynachen und Tschetschenen
Der Ausdruck “Nachen” (Volk) bezieht sich auf die Tschetschenen, Kisten, Tsova-Tuschen (Batsi) und auf alle, die dem nachischen Sprachzweig des Nordost-Kaukasus angehören und eine gemeinsame Abstammung und Kultur haben. In diesem Werk werden die Malchi (in einigen Quellen als separate, nachische Ethnie eingestuft) als eines der (divergierenden) tschetschenischen Stämme betrachtet. “Nache” bezeichnet auch die frĂĽheren Vorfahren der Tschetschenen angeblich seit der Trennung der Nachen von den anderen nordöstlichen Kaukasiern, aber konkreter seit der Mitte des ersten Millenniums v. Chr., als sie zuerst als “Nachos” in historischen Annalen Erwähnung fanden, bis zum frĂĽhen Mittelalter, als die nordkaukasischen Waynachen als eigenes Volk auftraten. “Waynache” bezieht sich auf die Gemeinschaft der heutigen Tschetschenen, verwandten Inguschen und Kisten. Es bezieht sich auch auf Tschetschenen in der Zeit vom Mittelalter bis zur Trennung von den Inguschen.
Einem Ansatz zufolge begann die Trennung der Inguschen vom restlichen, tschetschenischen Volk im 17. Jahrhundert n. Chr. und wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts n. Chr. vollzogen. Der tschetschenische Historiker Ya. Achmadow (2002) nimmt an, dass die Inguschen zu Beginn des 18. Jahrhunderts aus der Waynachen-Gemeinschaft ausgeschwärmt sind. Einer dritten Theorie zufolge wird eine separate inguschische Nationalität im späten 19./frühen 20. Jahrhundert erkennbar. Die ersten zwei Hypothesen sind eher im Einklang mit der Tatsache, dass die Inguschen eine gemeinschaftliche Entscheidung trafen, neutral eingestellt zu sein gegenüber den russisch-kaukasischen Kriegen, was ihre Unterscheidung akzentuierte. Auch findet man die zwei frühesten Erwähnungen der Inguschen in russischen Quellen in Werken von I. Shtelina und I. Georgi, jeweils in den Jahren 1770 und 1776.
Wie auch immer, ethnische Kennzeichnungen waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch unscharf. In vielen russischen Dokumenten des 18. Jahrhunderts wurde das Ethnonym “Tschetschenen” fĂĽr beide, Tschetschenen und Inguschen verwendet. 1870 schrieb der inguschische Schriftsteller Chakh Akhriev ein Werk ĂĽber inguschische, epische Geschichten entlehnt aus tschetschenischen Legenden. Im russischen Zensus des Jahres 1897 wurden Inguschen als eine der tschetschenischen Stämme bezeichnet. Seitens der tschetschenischen und inguschischen Intellektuellen wurden mehrere Versuche gestartet, den nationalen Zusammenhalt zu stärken, zuletzt Anfang der 1920er – aber ohne Erfolg. Auch wenn der gattungsmäßige Ausdruck der “Waynachen” in den 1930ern noch verwendet wurde, hatte sich paradoxerweise eine separate inguschische Identität herausgebildet, die namentliche Trennung hatte sich bereits institutionalisiert, welches auf die Unterscheidung zwischen 2 “Völkern” hinauslief. Gegenwärtig ist es legitim, nach zeitgemäßer Auslegung ĂĽber 2 Nationalitäten zu sprechen, vorbehaltlich der Tatsache, dass das letzte Kapitel in ihrer wechselseitigen Beziehung noch nicht geschrieben wurde.
Hauptsächlich in einigen kulturellen Aspekten und ihrer Einstellung zu Russland gibt es auch eine wahrnehmbare Unterscheidung zwischen den Tschetschenen aus den Bergen und aus dem Flachland. Es wird jedoch nicht ausgesprochen und ist vielmehr das Ergebnis einer machiavellistischen Maxime.
Volkstum
Die Tschetschenen haben sich demokratische Wege angeeignet, ihre soziale Struktur ist pluralistisch ausgeprägt mit BerĂĽcksichtigung ihrer Individualität. Bis zur russischen Eroberung hatte sich ein unabhängiges Volk gebildet mit einer eigenen Sprache und einem fest umrissenen Gebiet, und eigentĂĽmlichen, obgleich stabilen, sozialen und politischen Strukturen basierend auf autonomen Klans mit gegenseitigen UnterstĂĽtzungsbeziehungen, die sich in größeren StammesbĂĽndnissen verbanden (die mit den Dialekten koinzidierten). Jeder Klan wurde von einem angesehenen Stammesältesten angefĂĽhrt und Entscheidungen wurden von einem gewählten Gremium oder per Volksabstimmung getroffen. Zu Beginn der russischen Ăśbergriffe verschwanden die Feudalklassen und die soziale Unterscheidung musste auf hartem Wege verdient werden – durch die Erbringung auĂźergewöhnlicher Leistungen der Tapferkeit.
Der Nationalismus, wie er (zumindest bei Ausbruch des Krieges mit Russland) durch die Tschetschenen und den anderen nordkaukasischen Völker gelebt wurde, koinzidiert nicht gänzlich mit dem westlichen Konzept, da sich beide unter unterschiedlichen Umständen entwickelten. Westliche Forscher sollten dies in Betracht ziehen, wenn sie ihre Methoden anwenden zur Messung des nordkaukasischen Nationalismus. Die Waynachen haben vor langer Zeit ein einzigartiges Markenzeichen zur nationalen Vereinigung erschaffen, das sichtbarste Merkmal waren die aufwendigen Warnsysteme der Wachttürme, die sich vom Vorgebirge bis zu den entferntesten Waynach-Bergsiedlungen ausbreiteten. Die soziale Struktur war derart, dass sich bei Wahrnehmung einer äußeren Gefahr alle großen Stammesverbände (Tukhums) nahtlos vereinten, angesichts der Bedrohung. Beziehungen der Tukhums untereinander wurden präzise ausbalanciert zwischen Distanzierung in Friedenszeiten (um so wenig Sand wie möglich ins Getriebe zu streuen) und perfekter Synchronisierung und Harmonisierung, sobald es notwendig war. Somit gab es ein Bewusstsein für eine allumfassende ethnische Identität, die alle Stammesformationen einschloss. Höchstwahrscheinlich würde ein Außenstehender diese Dimension übersehen bei einer Betrachtung auf Mikroebene und die Mechanismen nicht bemerken, die sich in Bewegung setzen würden bei entsprechenden emotionalen Reizen.
Ein Tschetschene ist gefangen in einem Netz aus supranationalen, ethnischen, nationalen und Unmengen von subnationalen Identitäten: Kaukasier, Bergbewohner, Nordkaukasier, Nordostkaukasier, Nache, Waynache, Nochtscho (Tschetschene), Mitglied eines Tukhums (Stammesverband), Taips (Klan), Auls (Dorf), Sub-Klans Vaer/Gar/Neqe und der “Großfamilie” Dooezal. Die Religion trägt ebenfalls zur komplexen Identität bei: Muslim, Sunnite, Schafiite, Sufi, Tariqa-Mitglied, Vird-Anhänger (Vird ist eine Art der Dhikr-Ausübung).
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