Vortrag von Sakajew am 23. Februar in Brüssel
Am 22. Februar fand eine internationale Konferenz in Brüssel/Belgien statt. Anlass war der 70. Jahrestag der Deportation des gesamten Tschetscheno-Inguschischen Volkes durch das sowjetische Regime am 23. Februar 1944. Achmed Sakajew, Premierminister der Tschetschenischen Republik Itschkeria, hielt eine Rede über das tragische Ereignis.
Wie folgt:
Liebe Landsleute!
Liebe Freunde!
Am 23. Februar 1944, auf dem Höhepunkt des Zweiten Weltkriegs, wurde auf Beschluss der sowjetischen Regierung das gesamte waynachische Volk (Tschetschenen und Inguschen) nach Zentralasien deportiert. Die Deportation fand unter Anwendung von barbarischsten Maßnahmen statt und in Folge dieser grausamen Aktionen kamen Hunderttausende von Menschen durch Hunger, Kälte, Krankheiten und im Kugelhagel der Vollstrecker um. Alle Waynachen nehmen diese Tragödie bis heute als persönlichen Schmerz wahr, da es in Tschetschenien und Inguschetien keine einzige Familie gibt, die keine Angehörigen verloren hat. Der Schmerz und die tragischen Verluste, die das waynachische Volk erleiden musste, sind keineswegs nur abstrakte Geschichten für die Tschetschenen und Inguschen. Nichts und niemand kann diese Katastrophe aus dem kollektiven Gedächtnis des Volkes löschen. Zwei weitere grausame Kriege mussten die Tschetschenen in der jüngsten Vergangenheit durchleben und der andauernde Guerillakampf sowie der daraus resultierende Terror durch die russischen Straforgane haben die Vergangenheit und die Gegenwart zu einem einzigen tragischen Knoten verknüpft.
In der russischen Geschichtsschreibung wird die Deportation der nordkaukasischen Völker „Stalins Deportation” genannt. Die Opfer dieses Genozids stellen die Bedeutung dieses Ausdrucks nicht in Frage, und verwenden es, um den Akt des Genozids sprachlich zu bezeichnen.
Jedoch steckt hinter dieser Definition der Versuch, den Ansatz der “persönlichen Verantwortung Stalins” in den Gedanken der gesamten Weltbevölkerung und den Opfern des Genozids zu verankern, anstatt die volle Schuld für dieses Verbrechen zu Fuße des russischen Staates anzuerkennen.
Doch die Prüfung historischer Dokumente zeigt sehr deutlich, dass der Genozid am tschetschenischen Volk eine Konstante in der Politik des russischen Staates war, die unter jedem sozio-politischen Regime praktiziert wurde.
Das Vorhaben einer “demokratischen Verfassung”, welche durch Pawel Pestel entworfen wurde, einer der Führer und der Hauptideologen der russischen Dekabristen, und 1823 durch seine Gefährten genehmigt wurde, zeigt deutlich auf, dass die Idee der Deportation der kaukasischen Völker eines der Doktrinen der russischen Staatspolitik zu Beginn des 19. Jahrhunderts war.
Folgendes schlugen die liberal denkenden Dekabristen in ihrem Verfassungsentwurf in Bezug auf die Völker des Kaukasus einschließlich der Tschetschenen vor:
“Alle Völker des Kaukasus in zwei Kategorien zu teilen: friedlich und gewalttätig. Die Ersteren sollten in ihren Wohnstätten bleiben und in das russische System der Gesellschaft und der Regierung eingeführt werden, wohingegen die Zweiteren zwangsumgesiedelt werden sollten ins Innere Russlands, geteilt in Grüppchen in allen Regionen Russlands. Russische Siedlungen sollten quer über den Kaukasus errichtet werden und den russischen Einwohnern sollten die von den Gewalttätigen konfiszierten Ländereien übergeben werden. Das ist der Weg, um im Kaukasus auch die kleinste Spur ihrer früheren Bewohner zu verwischen und die Region in ein sicheres und wohlhabendes russisches Gebiet zu verwandeln.”
Wie man diesem Auszug entnehmen kann, war der wahrhaftige Autor des Vorhabens der Deportation, welche verschiedene kaukasische Völker miteinschloss, nicht der blutrünstige Diktator Josef Stalin, sondern ein Liberaler und ein Demokrat, Pawel Pestel. Es muss dazu gesagt werden, dass der russische Kaiser Nikolaus I., der Pawel Pestel mit fünf weiteren Initiatoren des misslungenen Dekabristenaufstands erhängen ließ, zum Kaukasus und seinen Völkern eine ähnliche Einstellung hatte wie die von ihm exekutierten Dekabristen.
Das lässt sich aus dem berühmten Bescheid ersehen, den Nikolaus I. seinem Gouverneur im Kaukasus, General Paskewitsch, zusandte:
“Nach der Vollendung dieser edlen Tat (Russisch-Türkischer Krieg) werden Sie sich jetzt einer Neuen annehmen, die, nach meiner Meinung, nicht weniger glorreich ist und aus Sicht des unmittelbaren Nutzens sogar noch bedeutungsvoller ist. Ich spreche über die endgültige Unterwerfung der Bergvölker bzw. die Ausrottung der Rebellen.”
Im Laufe der 60 Jahre des kaukasischen Krieges im 19. Jahrhundert wurde diese Maxime des russischen Kaisers fast buchstabengetreu umgesetzt: mehr als die Hälfte der tschetschenischen Bevölkerung starb im Krieg, gefolgt von Zehntausenden Waynachen, die gezwungen waren zu flüchten und nach Zentralasien umzusiedeln. Das Wort „beinahe” ist hier besonders angebracht, da es den Eroberern misslang, ihr Hauptziel im Kaukasus zu erreichen – die endgültige Unterwerfung der Bergvölker; nacheinander fanden gewalttätige Aufstände in großem Umfang gegen die russischen Kolonialherren statt.
Nachdem das kommunistische Regime und Stalins Tyrannei zu einem Verbrechen erklärt wurden im Jahre 1991, bekannte sich Russland zu demokratischen Werten und Menschenrechten, darunter auch das Recht der Völker auf Selbstbestimmung. Jedoch war der erste Krieg, der durch das neue demokratische Russland 1994 entfesselt wurde, erneut gegen das tschetschenische Volk gerichtet und zielte darauf ab, ihre Bestrebungen zur nationalen Befreiung zu untergraben. Abgesehen von der unmittelbaren Vernichtung von Hunderttausenden durch Bomben, Raketen, Artilleriefeuer und sonstigen Bestrafungsaktionen, hat die russische Regierung erneut die Idee der Deportation der Tschetschenen aus ihrer historischen Heimat zu Tage gefördert. Dies wurde von einem Geheimerlass getragen, herausgegeben vom russischen Verteidigungsminister Pawel Gratschow, der einer Gruppe von Ministerien bevorstand, die die verfassungsmäßige Ordnung in Tschetschenien im Dezember 1994 wiederherstellen sollten. Dieser Erlass zeugt von der Beständigkeit der Politik des russischen Staates in Bezug auf die tschetschenische Bevölkerung:
„An den Genossen Jegorow N.D., Jerin W.F., Stepaschin S.W.
In Anlehnung an den Geheimerlass des Präsidenten der Russischen Föderation «Über die Maßnahmen zur Wiederherstellung des Verfassungsrechts und der verfassungsmäßigen Ordnung auf dem Gebiet der Tschetschenischen Republik» wird die Einschleusung einer Division der Truppen des Innenministeriums und zweier Divisionen des Verteidigungsministeriums in die Tschetschenische Republik vorbereitet.
In Anbetracht der voraussichtlichen Massen-, aber nicht organisierten Widerstände wird beschlossen, dass diese Handlungen dazu genutzt werden, eine MASSENDEPORTATION der örtlichen Bevölkerung durchzuführen, unter dem Deckmantel eines organisierten Rückzugs aus der Kampfzone in andere Regionen der Russischen Föderation, die noch gesondert definiert werden…
Der Verteidigungsminister der Russischen Föderation,
Vorsitzender der Gruppe,
General Gratschow”
Russland hat bereits verschiedene Zaren, Generalsekretäre der kommunistischen Parteien und Präsidenten sowie verschiedene politische Regimes erlebt: die Monarchie, abgelöst durch den Bolschewismus, die wiederum der Wegbereiter für die Demokratie war etc. Doch eines hat sich nie geändert, die Agenda in Bezug auf die Tschetschenen – sie zu „unterwerfen oder auszurotten”. Der langwierige Kaukasuskrieg im 18. und 19. Jahrhundert führte zur Auslöschung von mehr als der Hälfte des gesamten tschetschenischen Volkes. Für den Hass der Kommunisten auf rebellische Tschetschenen musste unser Volk einen hohen Preis zahlen – unterschiedlichen Schätzungen zufolge starben bis zu 70 Prozent in Folge von Repressionen, Hunger und Kälte beim Transport in ungeheizten Waggons, die eigentlich zum Viehtransport genutzt wurden, während der verheerenden Kälte im Februar 1944. Die jüngsten Kriege führten zur physischen Auslöschung von bis zu einem Viertel der 1 Million Tschetschenen, unter ihnen 40.000 Kinder unter 12 Jahren. Mehr als 300.000 Tschetschenen wurden über die ganze Welt verstreut, im Versuch, ihre Familien vor der totalen Zerstörung zu retten. „Unterwerfen oder ausrotten” — es gibt keine einzige Generation von Tschetschenen, die in den letzten drei Jahrhunderten nicht diese Früchte der standhaften russischen Politik erleben mussten.
Dennoch: die Welt ändert sich. Im Februar 2004, anlässlich des 60. Jahrestages der Deportation der Waynachen, erklärte das Europäische Parlament dieses Verbrechen zum Akt des Genozids. Heute, 70 Jahre nach diesem Ereignis, erinnern wir uns und andere auf der ganzen Welt an die Tragödie, so dass denjenigen, die Länder und Völker in blutige Katastrophen verwickeln, bewusst wird, dass ihre Verbrechen niemals vergessen oder vergeben werden.
22.02.2014 / Brüssel
Premierminister der Tschetschenischen Republik Itschkeria
Achmed Sakajew
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